Werther weiß, dass Lotte schon verlobt ist, aber er fühlt sich ihr so nahe; ihre gemeinsame Fühlbarkeit
scheint stärker als alle Konvention.
Dabei spielt das gemeinsame Empfinden einer Literatur der Empfindsamkeit (Klopstock) eine große Rolle.
Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitswärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land,(...) Sie sah gen Himmel
und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: 'Klopstock!' –
Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen …
Werthers Empfindung kennt keine Grenzen, keine Rücksichten:
Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige,
und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr.
die uns hier nicht weiter interessiert. Das Gedicht,
an das beide in diesem Moment denken, ist seine Frühlingsfeier von 1771. Da geht es gegen Ende auch um den Regen,
der nach dem Gewitter fällt und das Land erfrischt, als Äußerung Gottes. Interessanter ist etwas anderes: hier finden
sich zwei nicht im direkten Naturerleben, sondern sie fühlen das Naturphänomen durch Lektüreerinnerungen. Sie haben beide
dieselben Verse gelesen und geliebt und so erleben sie die Natur auf dieselbe Weise und wissen das.
Literatur hat also ihr Fühlen geprägt. Das ist heute sicher seltener, auch weil nicht mehr alle dasselbe lesen (es gibt keinen Kanon mehr), aber
vielleicht kennen Sie das auch mit Liedtexten, die Sie zitieren, oder von Filmszenen, über die Sie sich mit anderen zusammenfühlen.
Geben Sie Beispiele aus Ihrer Erfahrung! Was meinen Sie? Ist das authentisches Fühlen?
Ist die Liebe echt, wenn sie über Texte und Bilder anderer läuft?